Donnerstag, 10. Dezember 2020
Beklommenheit
Dreiundvierzig Jahre waren wir mit einem Künstler-Ehepaar befreundet. Früher haben wir oft in ihrer mediterran aussehenden Küche oder im kleinen weißen Salon mit den Empire-Möbeln gesessen. Oder im Wohnraum des Hauses mit den Hunderten von Kunstbänden. Jeder Raum des alten Backsteinhauses mit dem Bruchsteinsockel und dem verwunschenen Garten zeigte die Kreativität und den Geschmack seiner Bewohner.
Sie illustrierte Kinderbücher und machte Fernsehbeiträge für Kinder, er schuf Unmengen an Zeichnungen und wunderbare Kupfer- und Linoldrucke - oft mit gesellschaftspolitischen Themen.
Reich wurden sie davon nicht. Und das Schicksal war grausam und nahm ihnen vor 40 Jahren die begabte Tochter im Jugendalter durch einen Verkehrsunfall.

Das löste in der sensiblen Künstlerseele der Freundin etwas Schreckliches aus. Paranoide Schizophrenie.
Sie fühlte sich von Dämonen verfolgt, die oft die Gesichter von Nachbarn, Politikern oder Klerikern trugen. Nur sehr wenige Freunde wurden noch von ihr geduldet. Im Umgang mit ihr lief man auf sehr dünnem Eis.
Vor sechs Jahren starb unser Freund, sie lebte allein im Haus. Sie widmete sich der Sichtung seines Nachlasses und dem auch nach Jahrzehnten nicht endenwollenden Schmerz um die Tochter. Sie spann sich in einen Kokon ein und brach den Kontakt mit allen Freunden ab.
Rechnungen, Mahnungen und staatsanwaltliche Schreiben wurden nicht mehr geöffnet. Sie lebte außerhalb jeglicher Realität.
Irgendwann in den letzten Wochen setzte das Gericht einen Betreuer ein, der sie in ein Pflegeheim brachte. Und wies ihn an, das Haus zur Deckung der alten Schulden und laufenden Kosten zu verkaufen.

Wir haben das erst vor wenigen Tagen erfahren. Und auch, dass schon in zwei Tagen das Haus verkauft sein wird.

In letzter Sekunde haben wir mit einigen Freunden die Chance bekommen, den künstlerischen Nachlass zu retten und ein paar Teile des Hausrats zu erwerben. Vielleicht können wir noch einmal eine Ausstellung machen. Und durch Jüngere wurde die Idee geboren, Werke der Beiden virtuell sichtbar zu machen.

Unsere Freundin lebt auch weiter in ihrer quälenden, abgeschlossenen Welt. Sie will niemanden sehen... Wenn es sie erreichen könnte, wäre sie möglicherweise froh, dass das Lebenswerk ihres Mannes nicht im Container landet.

Ob das alte Haus mit dem großen Grundstück (in inzwischen sehr teurer Lage) wohl bleibt? Ich bin sehr skeptisch...

Es war anstrengend und schmerzlich bedrückend, in die Intimität eines langen Lebens einzudringen.

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